Auswirkung einer hohen Inflation und steigender Zinsen für Versicherungen
Eine Herausforderung jagt die nächste – so macht es aktuell den Anschein. Waren die Bilanzen der Versicherungen in den vergangenen Jahren v.a. durch die COVID-19-Pandemie und deren Auswirkungen (bspw. Lockdowns) belastet, führen im heurigen Geschäftsjahr 2022 insbesondere der Ausbruch des Ukraine-Russland-Konflikts sowie steigende Inflation und Zinsen zu einem schwierigen Umfeld für die heimischen Versicherungsunternehmen.
Steigende Leitzinsen – Entwicklungen noch höher als das 200-Jahres-Ereignis in Solvency II!
Am 15. Dezember 2022 hat die EZB eine weitere Zinserhöhung beschlossen (siehe Pressemitteilung). Nach der langen Nullzinspolitik bis Juli 2022 wurden die Leitzinsen zuerst von 0,0 Prozent um 0,5 Prozentpunkte erhöht, anschließend zweimal um jeweils 0,75 Prozentpunkte im September und Oktober 2022. Mit der letzten beschlossenen Zinserhöhung um 0,5 Prozentpunkte liegt der wichtigste Leitzins im Euro-Raum nun bei 2,5 Prozent. Außerdem geht der EZB-Rat davon aus, im kommenden Jahr, je nach Datenlage, die Zinsen noch weiter zu erhöhen.
Die Auswirkungen dieses rasanten Zinsanstiegs insbesondere für Versicherungsunternehmen lässt sich anhand der Entwicklung der risikolosen Zinskurve darstellen, die monatlich von der Europäischen Aufsichtsbehörde (European Insurance and Occupational Pensions Authority, kurz: EIOPA) veröffentlicht wird.
Quelle: https://www.eiopa.europa.eu/tools-and-data/risk-free-interest-rate-term-structures_en
Während die Spot-Rates der risikolosen Zinskurve (berechnet mittels einer vorgegebenen Extrapolationsmethodik seitens EIOPA) der ersten sechs bis zwanzig Jahre in den vergangenen drei Jahresendkurven negativ waren, liegen diese in der November-Kurve weit darüber. Gerade in den ersten zwanzig Datenpunkten ist die aktuelle Kurve um ca. zwei bis drei Prozentpunkte höher als diejenige aus dem Jahr zuvor. Zum Vergleich: In der von EIOPA kalibrierten Standardformel, mit der ein 200-Jahres Ereignis modelliert werden soll, ist der entsprechende Zinsschock mit einem Anstieg von einem Prozentpunkt je Spot-Rate berechnet. Dadurch ist ersichtlich, dass solche starken Zinsbewegungen innerhalb weniger Monate wohl nicht erwartet waren.
Welche Auswirkungen hat nun ein Zinsanstieg für Versicherungsunternehmen?
Auf der Aktivseite der Bilanz kann ein Zinsanstieg zu einer starken Reduktion der Marktwerte von festverzinslichen Wertpapieren führen - möglicherweise sogar bis unter den UGB-Buchwert. Dadurch erhöht sich der Druck auf das Jahresergebnis – insbesondere bei Lebensversicherungen.
Auf der anderen Seite hat ein Zinsanstieg vor allem in der Berechnung der versicherungstechnischen Rückstellungen nach Solvency II einen positiven Effekt. Da die Rückstellungen entsprechend der Marktwerte unter Berücksichtigung des Zeitwerts bilanziert werden müssen, werden die Verpflichtungen aus Versicherungsverträgen mit der risikolosen Zinskurve diskontiert (d.h. abgezinst). Somit führen steigende Zinsen zu einem stärkeren Abzinsungseffekt des Best Estimates und der Risikomarge. In Summe ist dadurch sogar, je nachdem wie sich die Laufzeiten der Verpflichtungen der Passivseite zur Aktivseite verhalten, ein positiver Eigenmitteleffekt möglich (d.h. der positive Diskontierungseffekt ist stärker als das Absinken der Marktwerte der Assets).
Hohe Inflation – ist die Vergangenheit zur Modellierung noch aussagekräftig?
Die Inflation ist im Jahr 2022 auf einem Rekordniveau. Während der Verbraucherpreisindex 2010 (kurz: VPI) zu November 2021 noch bei einem Zähler von 125,6 notiert, liegt die vergleichbare Ziffer im November 2022 bereits bei 138,8 – das ist ein Anstieg von +10,5%. Zum Vergleich – der VPI 2010 ist von November 2020 auf November 2021 um +4,3% angestiegen. In folgender Grafik ist die Entwicklung des VPI 2010 seit November 2019 ersichtlich:
Quelle: https://www.oenb.at/Statistik/Standardisierte-Tabellen/Preise-Wettbewerbsfaehigkeit/Verbraucherpreise/Nationaler-Verbraucherpreisindex.html
Bei anderen Indizes, wie zum Beispiel dem Baukostenindex, sind je nach betrachteten Sektoren (Wohn- und Siedlungsbau, Straßenbau, Brückenbau und Siedlungswasserbau) von November 2021 auf November 2022 sogar Preissteigerungen über 13% zu beobachten.
Eine hohe Inflation kann in der Schaden-Unfall-Versicherung zu einem möglichen Anpassungsbedarf in der Rückstellung für noch nicht abgewickelte Versicherungsfälle führen. Bei den aktuariellen Berechnungen der Schadenrückstellung nach Solvency II werden die jüngsten Anstiege der Inflation jedenfalls zu würdigen sein. Insbesondere in Versicherungszweigen, die sogenannte „Long-Tail“ Sparten (Anmerkung: lange Abwicklungsdauer) sind, wie zum Beispiel KFZ-Haftpflicht, kann es in den Berechnungsmodellen zu Änderungen kommen. Da in der Historie (je nach Datenverfügbarkeit bspw. die vergangenen 20 Jahre) durchgehend geringere Inflationsraten zu beobachten waren, sind gerade in Zeiten hoher Inflationen die zu beobachtenden Entwicklungen in den aktuariellen Schätzungen möglicherweise nicht enthalten und müssen ggf. gesondert gewürdigt werden.
Neben der Berechnung der Schadenrückstellung nach Solvency II müssen ebenfalls realistische Inflationsannahmen im zweiten Teil des Best Estimates der Schaden-/Unfallversicherung, der Prämienrückstellung, getroffen werden. Eine steigende Inflation kann hier einerseits die Kostenentwicklung in den Modellen beeinflussen, andererseits ist theoretisch aber auch ein geändertes Stornoverhalten aufgrund kurzfristiger höheren Indexanpassungen möglich.
In der Berechnung der versicherungstechnischen Rückstellungen nach Solvency II im Bereich der Lebens- und Krankenversicherung stellt sich vor allem aufgrund der Dauer der Verträge die Frage, welche langfristige Inflation angemessen ist. So lange jedoch die Europäische Zentralbank (EZB) vom Langfristziel der zwei Prozent pro Jahr festhält (insbesondere wieder bekräftigt durch die Veröffentlichung am 15.12.2022), ist es demnach wohl weiterhin angemessen, diesen Wert als langfristige Wertsicherung anzunehmen. Gerade jedoch in der kurzfristigen Entwicklung sollte die Inflationserwartung, die in der Modellierung vor allem eine Auswirkung auf die Kostenentwicklung hat, deutlich über den 2% liegen.
Neben den ggf. entstehenden Modellierungsanpassungen in Solvency II ist das Thema der langfristigen Inflationsentwicklung natürlich auch für die Berechnung der Personalrückstellungen nach UGB relevant. Langfristig kann man sich dabei wohl wieder an dem EZB-Ziel orientieren. Für die kurz- bis mittelfristigen Steigerungen sollten jedenfalls die aktuellen Inflationserwartungen, die deutlich über den zwei Prozent liegen, berücksichtigt werden.
Die Wichtigkeit der Berücksichtigung bzw. Modellierung der steigenden Inflation in Solvency II unterstreicht eine kurz vor Jahresende veröffentlichte Stellungnahme der EIOPA, worin Erwartungen der Auswirkung der Teuerungsraten insbesondere auf die versicherungstechnischen Rückstellungen (bzw. Best Estimate), auf die Investments sowie auf die Solvenzkapitalanforderung (kurz: SCR) dargelegt werden. Die Stellungnahme kann auf der Homepage der EIOPA detailliert nachgelesen werden.